


In Andenken an die Wahl des Bundespräsidenten Gustav Heinemann vor 40 Jahren hat der SPD-Kreisverband Rhein-Erft eine Gedenkstunde in Pulheim durchgeführt und eine Gedenktafel in der Gustav-Heinemann-Straße eingeweiht.
Die Veranstatung fand unter widrigsten Bedingungen statt. Starker Regen und kalter Wind sorgten für eine ungemüdliche Feier. "So ist das auch mit der Demokratie. Das ist nichts Bequemes. Man muss auch für sie streiten, auch wenn einem der Wind ins Gesicht bläst" meinte SPD-Kreisvorsitzender Guido van den Berg bei seiner Begrüßung.
Die Kölnische Rundschau berichtet in ihrem Artikel: "Gedenktafel für Heinemann enthüllt" am 6. März 2009:
"Bei widrigsten Bedingungen enthüllten gestern die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei im Rhein-Erft-Kreis an einer Häuserwand in der Gustav-Heinemann-Straße 13 eine Gedenktafel, die an den ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann erinnern soll. Sie trägt das Konterfei des Staatsoberhauptes und beschreibt in einem kurzen Erläuterungstext die wichtigsten Stationen in seinem Leben. Zuvor hatte der Historiker Otto Dann in einem Referat noch einmal die Wahl Heinemanns zum Präsidenten, die gestern vor genau 40 Jahren stattfand, nachgezeichnet und die Bedeutung dieses Ereignisses für die Sozialdemokraten herausgestellt. An der Enthüllung der Tafel nahmen unter anderem SPD-Bürgermeisterkandidat Florian Herpel, die Ortsvereinsvorsitzende Jutta Herrmann, der Landratskandidat Hans Krings und der Kreisvorsitzende Guido van den Berg teil."
Die Online-Zeitung Rhein-Erft berichtet am 6. März 2009 in ihrem Artikel: "Mehr Demokratie wagen Gedenktafel für Gustav Heinemann" über die Gedenkstunde der Rhein-Erft-SPD zum 5. März 1969 – in der Gustav-Heinemann-Straße in Pulheim:
Es regnete in Strömen an diesem Tag, an diesem Nachmittag. Mehrere Schirme mussten herhalten, um die Redner und Besucher zu schützen, ebenso deren Manuskripte, Kameras und die Notizblöcke der Journalisten. Neben den Ratsherren Uebach, Bromby, Hinz, dem SPD-Vorsitzenden Auf der Landwehr und der Ratskandidatin Juta Herrmann, waren als Redner erschienen: Dezernent und SPD-Bürgermeisterschaftskandidat Florian Herpel, der Landratskandidat der SPD für den Rhein-Erft-Kreis, Hans Krings und der Vorsitzende der SPD-Rhein-Erft, Guido van den Berg. Als Experte für die Geschichte des SPD-Politikers Heinemann war der Historiker Dr. Otto Dann eingeladen worden.
Nichts ist sicher!
Guido van den Berg begrüßte die Gäste zu dieser außergewöhnlichen Veranstaltung in Pulheim. Nichts ist sicher, so zitierte er zunächst Willy Brandt und skizzierte viele wegweisende historische Stationen und Ereignisse mit der neun als letzte Ziffer in der Jahreszahl und die dabei handelnden Personen der SPD. Dazu zählen, wie der Redner sagte, Friedrich Ebert (1919) , Gründung der Bundesrepublik (1949), das Godesberger Programm (1959), das Ende der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik Deutschland (1969) und natürlich den 5. März 1969, es war der Tag als der erste Innenminister nach dem Krieg (1949-1950), Gustav Heinemann, nicht nur der erste sozialdemokratische Bundespräsident von der Bundesversammlung in Berlin gewählt worden ist, sondern mit dieser Wahl das wichtige Signal für die sozial-liberale Koalition an diesem 5. März 1969 gesetzt worden ist. Im Ergebnis dieser Allianz wurde der langjährige Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Willy Brandt, der unter dem CDU-Kanzler Außenminister war, der erste sozialdemokratische Bundeskanzler; Walter Scheel (FDP) wurde Vizekanzler bzw. Außenminister. Damit stellte die SPD die beiden wichtigsten politischen Ämter der Bundesrepublik Deutschland und trugen dazu bei, so die Auffassung vieler Historiker, dass die Bundesrepublik Deutschland am Anfang eines Wandels der politischen Kultur stehen sollte, an dem die SPD wesentlich beteiligt war. Willy Brandt hatte in seiner ersten Regierungserklärung die Chiffre für diesen Wandel selbst formuliert; es gelte jetzt: Mehr Demokratie wagen. Van den Berg meinte in seiner Rede, dass dieses in die Geschichte eingegangene Zitat eigentlich eine Wortschöpfung von Gustav Heinemann sei. Er sagte abschließend, es lohne sich auch heute noch für dieses Ziel zu streiten und zu kämpfen und bedankte sich bei den Menschen, die trotz Regens und Sturmwind gekommen seien.
Herpel: Bewusster Politiker
Für den Kulturdezernenten und SPD-Bürgermeisterschaftskandidaten Florian Herpel war Gustav Heinemann mehr als nur ein Parteigänger, schon gar kein Parteisoldat. Er war ein sehr bewusster Politiker, so Herpel. Heinemann habe sich, so führte er weiter aus, auch mit Strömungen und Meinungen und der Meinungsvielfalt über Parteigrenzen hinweg auseinandergesetzt. Dann zitierte er Heinemann mit einer Aussage dessen, welche das Denken des ehemaligen Bundespräsidenten und Kirchenmannes (Heinemann war Mitbegründer des Evangelischen Kirchentages) präziser illustrieren sollte: Das Grundgesetz ist ein großes Angebot, zum ersten Mal in der Geschichte will es einem sozialen Rechtsstaat zur Geltung verschaffen. In ihm sei Platz für eine Vielfalt von Meinungen, die in einer offenen Diskussion miteinander streiten, um zum Ziel zu kommen. Herpel meinte, dies könne auch ein Auftrag für uns sein, die auf kommunaler Ebene tätig seien; es komme nicht darauf an, dies bezog er auch auf sein politisches Handeln als möglicher Bürgermeister, seine Parteizugehörigkeit nicht wie eine Monstranz vor sich her zu tragen, sondern dass es wichtig sei, sich mit den Meinungen der Leute auseinanderzusetzen, auf einem soliden Fundament der eigenen Parteiauffassung. Heinemann solle man als Auftrag und Vermächtnis würdigen und: Die hierher gekommenen Menschen, so seine Schlussworte, tragen diesem Anspruch Rechnung.
Reformer Heinemann
Es regnete weiter, sogar noch stärker, unterstützt von heftigem Wind, so dass der geladene Historiker, Dr. Otto Dann, sein siebenseitiges Rede-Manuskript wesentlich gekürzt hatte; nicht zuletzt schien es sich bald in Regen aufzulösen. Dann skizzierte er Stationen aus dem politischen Wirken Heinemanns er war prominenter Gegner der Wiederbewaffnung der Deutschen – und würdigte dessen große Leistung als moderater Vermittler auch in schwierigen Zeiten. Heinemann, so Dann, habe sich in seiner Zeit als Justizminister als großer Reformer erwiesen, zum Nutzen gerade für die sozial Schwachen und Unterprivilegierten. An erster Stelle stünde hier Heinemanns unermüdliches Kämpfen für die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern. Ihm ist es wesentlich zu verdanken, dass aus bis dato geltenden Zuchthausstrafen, Freiheitsstrafen wurden. Die Liberalisierung des Sexualstrafrechts (Paragraph 175) gehörte auch zu den großen Verdiensten dieses manchmal so spröde wirkenden Protestanten. Heinemann hatte schon sehr früh in seinem Leben politische Erfahrungen sammeln können. Der gelernte Jurist Heinemann (geb. 1899), der auch mal einen Lehrauftrag an der Universität zu Köln hatte (Berg- und Wirtschaftsrecht, 1933-1939), hatte sein erstes prominentes Amt als Oberbürgermeister von Essen (1946 1949). Heinemann hatte seine Anhänger dennoch bei manchen politischen Themen überrascht. So billigte er lediglich die ethische Indikation im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs und, was für noch mehr Überraschung damals gesorgt hatte, der Reformer Heinemann befürwortete die damals so hitzig geführte Debatte um die Notstandsgesetze. Viele Historiker sehen in diesem Gesetzesvorhaben einen gewichtigen Grund für die Studentenbewegung der 60er Jahre. Der Historiker Dann resümierte den entschiedenen Gegner des Obrigkeitsstaates mit dessen Worten: Er ließ sich in seiner aktiven politischen Zeit immer davon leiten: Nicht weniger, sondern mehr Demokratie das ist die Forderung der Zeit.
"Dank an die Familie Mück"
Im strömenden Regen ging es dann an zum gegenüberliegenden Haus Gustav-Heinemann-Str. 13, wo die Gedenktafel von Florian Herpel und Hans Krings enthüllt worden ist, unter starkem Beifall der Gäste. Zum Schluss noch eine Bemerkung: Zu danken ist den Hauseigentümern, der Familie Mück, in Nr. 13, die das Anbringen dieser Gedenktafel an den großen Sozialdemokraten Gustav Heinemann durch seine Zustimmung ermöglicht hat.
Der Historiker Prof. Dr. Otto Dann hielt die Ansprache "Gustav Heinemann 1969. Große Koalition und Machtwechsel" am 5. März 2009 in Pulheim:
"Der 5. März des Jahres 1969 war ein kalter Tag. In der Ostpreußenhalle des Berliner Messegeländes versammelten sich die Delegierten der Bundesversammlung, um den dritten Präsidenten der Bundesrepublik zu wählen. Es waren gemäß unserer Verfassung die Abgeordneten des Bundestages, ergänzt um die gleiche Anzahl von Abgeordneten der Landtage insgesamt damals 1.036 Parlamentarier. Sie waren alle genötigt, mit dem Flugzeug anzureisen, denn es herrschte noch voll der Kalte Krieg, der an solchen Tagen sogar drohte heiß zu werden: die Sowjetregierung hatte scharfen Protest gegen diese Tagung eines Bundesorgans in Berlin eingelegt, und die DDR-Regierung hatte zusätzlich die Autobahn nach Berlin gesperrt. Schon von daher lag Spannung in der Luft. Rund 400 Journalisten, insgesamt etwa 2000 Personen hatten sich eingefunden. Denn die hier anstehende Wahl war in ihrem Ausgang völlig offen.
Die CDU/CSU präsentierte als Kandidaten den allseits geachteten und als Bundesminister vielfach erfahrenen Gerhard Schröder. Sie verfügte in der Bundesversammlung über 475 eigene Abgeordnete, und sie hatte keine Probleme, auch die 22 Abgeordneten der NPD, die damals dem Nationalsozialismus noch viel näher stand als heute, für sich in Anspruch zu nehmen. Sie war damit für die anstehende Wahl der große Favorit, denn sie benötigte lediglich 22 Stimmen von der FDP, ihrem langjährigen politischen Partner, um die absolute Mehrheit von 519 Stimmen für ihren Kandidaten zu erreichen.
Die SPD hingegen verfügte in Berlin nur über 443 Abgeordnete! Ihr fehlten also noch 76 Stimmen, um mit ihrem Kandidaten Gustav Heinemann im ersten Wahlgang zu siegen. Diese Stimmen konnten nur von einer Seite kommen, von der FDP.
Die FDP stand daher im Zentrum eines gesteigerten politischen Interesses. Seit den Zeiten von Adenauer und Heuß war sie der wichtigste Koalitionspartner der CDU, auch noch 1965 unter Ludwig Erhard. Nach dessen Scheitern und der Bildung einer Großen Koalition aber stand die FDP vor der Notwendigkeit, sich neu zu definieren und politisch zu orientieren. Das gelang ihr in einem beachtlichen Maße unter dem Vorsitz von Walter Scheel (seit 1963), ermutigt auch durch eine seit 1966 in Nordrhein-Westfalen erfolgreich regierende sozial-liberale Koalition (Willi Weyer und Heinz Kühn). Getragen von dem Reformgeist der späten 1960er Jahre war man nun bestrebt, sich von der Bindung an die CDU zu befreien. Gustav Heinemann aber war für diese Links-Liberalen mit seinem politischen Schicksal und seiner Reformpolitik als Justizminister zu einem Favoriten geworden. Schon im Januar 1968 wurde ihm der Theodor Heuß Preis verliehen.
In Berlin nun sollte durch die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten die neue Orientierung der FDP öffentlich sichtbar gemacht werden. Walter Scheel und seinen Reform-Freunden war jedoch bewusst, dass unter den 83 Delegierten der FDP noch längst nicht alle hinter diesem Konzept standen. So kam es am Vorabend der Wahl zu einer Klausursitzung, und hier ergab eine erste Abfrage nur 57 Zusagen für Heinemann. Nach einer intensiven Agitation durch Scheel wurden schließlich 77 Stimmen für Heinemann zugesagt. Am nächsten Morgen in der Ostpreußenhalle aber sah es anders aus: Für Heinemann wurden im ersten Wahlgang 514 Stimmen abgegeben, also bei weitem keine absolute Mehrheit. Immerhin waren es 13 Stimmen mehr als für Schröder. Doch im 2. Wahlgang betrug der Abstand nur noch 4 Stimmen, und die Spannung in der Ostpreußenhalle wuchs noch einmal gewaltig. Die Entscheidung musste im 3. Wahlgang fallen, in dem eine relative Mehrheit ausreichend war. Sie ergab 512 Stimmen für Heinemann, 506 für Schröder.
Damit war nach einem Wahlmarathon von 9 Stunden und mit einem denkbar knappen Ergebnis eine Entscheidung gefallen, von der wir heute wissen, dass sie weit reichende Folgen hatte. Die Sozialdemokraten hatten zu ihrer kleinen Siegesfeier im Philips-Pavillon spontan auch die FDP-Spitze eingeladen, die mit Scheel, Genscher und Mischnick erschien und umarmt wurde: Freude und Zufriedenheit über diese erste bundespolitische Zusammenarbeit, vor allem auf Seiten der FDP, die sich damit bundespolitisch wieder ins Spiel gebracht hatte. Kaum zu unterdrücken war die Frage, wie es weiter gehen sollte.
Denn zunächst regierte in der Bundesrepublik weiterhin die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Georg Kiesinger, und zwar ziemlich erfolgreich. Dazu hatten die Sozialdemokraten Karl Schiller, Willy Brandt, Helmut Schmidt. Herbert Wehner und nicht zuletzt Gustav Heinemann als Bundes-Justizminister wesentlich beigetragen. Gustav Heinemann war ein Jurist mit Leidenschaft und hoher Fachkompetenz. Er hatte vor allem als Rechtsanwalt und Justiziar gearbeitet und stand erst seit 1966 an der Spitze der bundesdeutschen Rechtspolitik. Hier hatte er sofort eine Modernisierung des Strafrechtes und des Strafvollzugs eingeleitet, die bis heute als Epoche machend gelten kann: eine starke Einschränkung des politischen Strafrechtes; eine Verringerung der Straf-Tatbestände, z.B. im Verkehrsrecht, wo kleinere Verstöße nun als Ordnungswidrigkeit gelten und mit einem Bußgeld geahndet werden sollten; die rechtliche Gleichstellung von unehelichen Kindern mit den ehelichen; die Abschaffung der Zuchthausstrafe; eine Modernisierung des Sexualstrafrechtes, und nicht zuletzt die Aufhebung einer Verjährung von Mord und von NS-Verbrechen. Auch eines der wichtigsten Projekte der Großen Koalition, die Erarbeitung von Notstandsgesetzen, fiel in die Zuständigkeit des Justizministers. Heinemann geriet damit in die Konfliktzone der bundesweiten Protestbewegung und zeigte Mut, besonders auch anlässlich der Oster-Unruhen von 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Hier ging er sogar an die Öffentlichkeit mit einer Fernseh-Ansprache, die ihm auf allen Seiten Respekt verschaffte und seine Eignung für das Amt des Bundespräsidenten sichtbar machte.
Nach seiner Wahl zum Bundspräsidenten sah sich Gustav Heinemann dann recht abrupt in einen anderen politischen Zusammenhang gestellt. Dafür sorgte allein das Medieninteresse, das seine Wahl auslöste. In einem Interview mit Reinhard Appel gab Heinemann seiner Wahl eine Interpretation, die Aufsehen erregte. Er erklärte, Es hat sich jetzt ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie. Machtwechsel – der Begriff löste schon bei Appel Erstaunen aus, und Heinemann stellte sofort klar, dass er sich über die Grenzen der politischen Macht des Präsidenten durchaus bewusst sei. Er hatte jedoch eine weitere Perspektive im Auge und versicherte: Der Machtwechsel werde sich in breiter Front erst bei den Bundestagswahlen ergeben. In einem beachtlichen Stück aber sei er schon mit seiner Wahl eingeleitet: Es ist doch eine wesentliche Position unter all unseren staatlichen Organen erstmalig auf die bisherige Opposition übergegangen.
Diese Aussagen machen deutlich, in welcher Perspektive Heinemann sein neues Amt gesehen hat: als die Eröffnung einer neuen politischen Epoche unter Führung der SPD, mit der die lange Vorherrschaft der CDU an ein Ende kommen sollte. Er machte sich gleichsam zum Herold dieses großen politischen Projektes. Die Zeit bis zur Bundestagswahl stellte er damit in ein besonderes Licht, und er nahm seine politischen Freunde in die Pflicht.
Nach dieser politischen Programm-Ansage des neuen Bundespräsidenten ist es nun interessant, auf den Beginn seiner Amtsführung zu schauen. Wie hat sich sein Selbstverständnis eines Machtwechsels hier niedergeschlagen?
Am Anfang steht die Rede nach seiner Vereidigung am 1. Juli im Bundestag. Hier sind zwei Aussagen bemerkenswert. Zunächst eine Zeitansage an seine damals so politisch mobilisierten Mitbürger: Meine Damen und Herren, wir stehen heute am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. Und er schloss seine Rede mit dem Ausruf: Nicht weniger, sondern mehr Demokratie das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle zu verschreiben haben. Und er fuhr fort: Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten. Das mehr Demokratie wurde dann bekanntlich von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung aufgenommen. Es war jedoch charakteristisch für Heinemann und seinen Patriotismus, dass er diese Parole sofort mit einem Bekenntnis zum deutschen Vaterland verband.
Die andere bemerkenswerte Aussage Heinemanns galt dem Thema Frieden: Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Diese heute schon berühmte Formulierung wurde von Heinemann sofort konkretisiert: Ich möchte alles, was ich tun kann, in den Dienst der Bemühungen um eine Friedensregelung stellen, die unser ganzes Volk einschließt. Bei seinem Antrittsbesuch in Westberlin schlug Heinemann vor, hier den Ansatzpunkt zu einer Friedensordnung zu schaffen.
Am 1. September 1969 sprach der Bundespräsident zum Gedenken an den Kriegsausbruch vor 30 Jahren und vertiefte hier das Thema Frieden durch den Vorschlag einer Friedensforschung. Er fragte: Müsste nicht längst die wissenschaftliche Erforschung des Friedens die Grundlage aller Grundlagenforschung sein? Die Ursachen der Konflikte unter den Völkern und die menschlichen Aggressionstriebe sind weniger erforscht als die Naturgesetze im Atom. Der Krieg ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. Deshalb gilt es, diesem Handeln auf die Spur zu kommen. Die Begründung einer Friedensforschung in Deutschland wurde dann ein besonderes Anliegen von Heinemann. Auf weitere seiner Initiativen hier einzugehen, erlaubt die Zeit nicht. Deutlich aber dürfte geworden sein, dass dieser Bundespräsident wirklich neue Themen zur Sprache gebracht hat.
Neben den Reden sind es stets die Reisen, mit denen ein Bundespräsident Politik macht. Auch hier hat Heinemann eigene Akzente gesetzt: Er hat seine ersten Auslandsreisen bewusst in den Dienst des Friedens und der Versöhnung mit den Nachbarländern gestellt, die im Weltkrieg unter Hitler-Deutschland gelitten hatten. Auf die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Polen war er bereits in der Rede am 1. September eingegangen, seine erste Reise aber ging im November in die Niederlande. Sie wurde zu einer Sensation, die in Holland noch heute in Erinnerung ist. Es war nach 20 Jahren Bundesrepublik der erste Besuch eines deutschen Präsidenten. Die Heinemanns hatten auch den richtigen Ton getroffen, und die Niederländer, beginnend mit dem Königspaar, waren auf die ausgestreckte Hand wohlwollend eingegangen. Es folgten Besuche in Dänemark und in Norwegen.
Schließlich ist ein Sektempfang für die Regierung Brandt-Scheel nach deren Vereidigung am 22. Oktober für uns bemerkenswert. Hier griff der Bundespräsident bewusst das Thema wieder auf, das er nach seiner Wahl angeschlagen hatte. Er wies darauf hin, das mit dieser Regierung erstmalig in der Bundesrepublik überhaupt und nach fast 40jähriger Unterbrechung die andere große Partei unseres Landes, die SPD, eine Regierung führt und somit der recht eigentliche Umschwung zwischen Regierung und Opposition stattfindet, der zur Bewahrung unserer Demokratie gehört. Heinemann konnte zufrieden darauf zurückblicken, dass der demokratische Machtwechsel, den er mit seiner Wahl eingeleitet sah, zu seinem institutionellen Abschluss gekommen war.
Aus aktuellem Anlass sollten wir nun zurück blicken: Im Jahre 1969 war es der SPD gelungen, einer 20jährigen Vorherrschaft der CDU ein Ende zu setzen und selbst die Führung zu übernehmen. Ihr Weg führte aus einer Großen Koalition heraus über eine Präsidentenwahl zu einer Bundestagswahl, die dann einen politischen Machtwechsel ermöglichte. Unsere aktuelle politische Situation zeigt erstaunliche Parallelen: Auch heute regiert eine Große Koalition und es stehen an: zunächst die Wahl des Bundespräsidenten und im Herbst dann die Wahlen zum Bundestag. Welche Hoffnungen wurden da schon wach, vor allem auf Seiten der Sozialdemokratie! Doch wie verschieden sind die konkreten Situationen: 1969 war ein neuer Bundespräsident zu wählen, heute steht ein durchaus bewährter zur Wiederwahl an. Damals war die FDP eine Partei, die zu neuen Ufern aufbrach und eine politische Wende herbeiführen wollte, heute bindet sie sich unter einem langjährigen Vorsitzenden ein weiteres Mal an die seit Adenauer bewährte CDU.
In der Geschichte gibt es keine Wiederholungen. Doch an eigene Chancen, wenn sie im Bereich des Möglichen liegen, sollte man glauben und für sie kämpfen, besonders dann, wenn man auf dem Boden von guten Traditionen steht und Vorbilder hat, die Mut machen. Dazu gehört für uns Gustav Heinemann. Zu dem Umgang mit Traditionen hat er wiederholt den großen französischen Sozialisten Jean Jaurès zitiert: Es komme nicht darauf an, Asche zu bewahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten.
In Erinnerung an die denkwürdige Wahl des Bundespräsidenten von 1969 soll heute in dieser Straße, die seinen Namen trägt – Dank der Großzügigkeit eines Hausbesitzers – eine Tafel angebracht werden mit Informationen über den Lebensweg von Gustav Heinemann. Die deutsche Sozialdemokratie hat es immer als etwas Besonderes betrachtet, dass dieser in Kirche und Gesellschaft vielfach engagierte Politiker in seiner letzten Lebensetappe in ihre Reihen gekommen war. Was ist über ihn und die Flamme, die er für uns darstellt, festzuhalten?
1. Es ist das Beispiel seines Lebens und Wirkens, das geprägt war von der Sorge für Gerechtigkeit und Frieden. Heinemanns Lebensweg zeigt im Übrigen, dass es in Deutschland möglich war, als politisch engagierter Mensch aufrecht, freiheitlich und demokratisch durch das 20. Jahrhundert zu gehen.
2. Gustav Heinemann hat in der Epoche der Teilung Deutschlands die Zusammengehörigkeit der Deutschen stets als einen politischen Leitwert festgehalten, und er hat Wege gefunden, ihn produktiv umzusetzen. Das bleibt ein Vermächtnis für das vereinigte Deutschland, für uns als Nation.
3. Mit Gustav Heinemann hat sich die deutsche Sozialdemokratie entscheidend gewandelt. Er kam im Jahre 1957, in einer kritischen Phase der Partei, und wurde zu einer Mut machenden Symbolfigur für den Zustrom von politisch engagierten Kräften aus bürgerlichen Schichten, die bis dahin der SPD distanziert gegenüber standen. Dieser anhaltende Zustrom veränderte die SPD nicht nur in ihrer sozialen Struktur, sondern auch in ihrer politischen Orientierung. Mit Gustav Heinemann beginnt eine neue Sozialdemokratie, die sich nicht mehr als Arbeiterbewegung versteht, – die moderne Sozialdemokratie, in der wir leben."