Memoiren ohne Wahlkampf

Hans-Jochen Vogel in Bedburg

„Das wird bestimmt Wahlkampf“, vermutet Lieselotte Schulze, „schließlich brennen die aktuellen Fragen unter den Nägeln.“ Vor der Buchhandlung Neunzig steht ein rot-weißer SPD-Sonnenschirm. Zwischen den Regalen zwängen sich Genossen mit „Wir wählen Gabi“-Buttons. Sie finden nur noch Stehplätze. „Ich habe keine Klappstühle mehr“, klagt Buchhändlerin Astrid Depke. Ungefähr 100 Leute schwitzen in ihrem Geschäft. Viele ältere sind darunter – sie warten auf einen Politiker ihrer Generation: Hans-Jochen Vogel. Der frühere Justizminister und SPD-Vorsitzende ist inzwischen 75 und will aus seinem Buch lesen: „Nachsichten – Meine Bonner und Berliner Jahre.“ Der SPD-Stadtverband Bedburg hat ihn eingeladen.

Aber Hans-Jochen Vogel kommt nicht. Eine halbe Stunde lang. Wahlkampfstress? Nein. Ein Stau, entschuldigt sich Vogel, als er den Applaudierenden lächelnd, fast gerührt zunickt. Er nimmt die Brille mit dem dicken schwarzen Rand ab und blättert in den 540 Seiten über sein Leben zwischen 1972 und 1994.

Er schlägt 30 Jahre zurück, zu den Olympischen Spielen 1972 in München. Vogel gehörte zum Organisationskomitee. Und erzählt in Bedburg, wie Terroristen die israelische Mannschaft überfielen und mehrere Menschen umbrachten. „Es war richtig, mit den Spielen fortzufahren“, findet Vogel noch heute.

Er blättert fünf Jahre weiter. Zum „Deutschen Herbst“ 1977. Damals entführten Anhänger der Rote-Armee-Fraktion (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Justizminister Hans-Jochen Vogel gehörte zum Krisenstab. „Ich kann mich nicht an Scherze erinnern, wie sie in Politikerrunden sonst üblich sind“, liest er in Bedburg. Ob man die Todesstrafe wieder einführen sollte, habe man damals nicht ernsthaft diskutiert, widerspricht Vogel anderen Darstellungen: „Als ich davon erfuhr, hatte derjenige, der den Vorschlag gemacht hatte, ihn wieder fallen gelassen.“ Wer „derjenige“ war, verrät er nicht. „Ich bin nachsichtig gewesen“, sagt er über sein Buch.

Hans-Jochen Vogel gilt als Oberlehrer der SPD. In seinem Buch schildert er detailliert Ereignisse und Juristen-Dispute. Er verschweigt aber seine Gefühle nicht: Er habe sich verantwortlich gefühlt dafür, dass die Terroristen Schleyer töteten. „Aber ich glaube nicht, dass ich mir etwas vorzuwerfen habe.“

Als Vogel seine Brille wieder aufsetzt, entspannen sich die Mienen der Zuhörer. Sie bitten den Politiker, ihre Bücher zu signieren. Lieselotte Schulze auch. Die aktuellen Fragen brennen noch immer unter den Nägeln: Vogel hat die Bundestagswahl nicht erwähnt.