Sehr geehrter Herr Minister,
mit großer Besorgnis muß die derzeitige Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt betrachtet werden. Das ehrgeizige Ziel, die Arbeitslosenzahlen am Ende der Legislaturperiode auf 3,5 Millionen zu senken, wird nicht zuletzt wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage in den USA in Deutschland nicht erreicht werden können.
Daher sollten nach meinem Dafürhalten Überlegungen angestrengt werden, um dem in der Folge des wirtschaftlichen Abschwungs in der USA zu verzeichnenden geringen Wachstum in Deutschland neuen Auftrieb zu verleihen und die Arbeitslosenzahl merklich zu senken. Blinder Aktionismus erscheint mir hierbei ebenso fehl am Platze wie beharrliches Nichtstun.
Unzweifelhaft hat die jetzige Bundesregierung sinnvolle Reformen, wie beispielsweise die Renten- und Steuerreform zur Entlastung des Mittelstandes und privater Haushalte auf den Weg gebracht. Allerdings stellt die momentane wirtschaftliche Lage in Deutschland neue Herausforderungen, auf die neue Antworten und neue Wege gegangen werden müssen gefunden werden müssen. Ebenso müssen bestehende Positionen einer kritischen Prüfung standhalten.
Vor diesem Hintergrund erlaube ich mir den Hinweis auf die von staatlicher Seite aufgebrachten Transferleistung in die ostdeutschen Bundesländer und weise in diesem Zusammenhang auf osteuropäische Staaten hin, die ohne jegliche Art derartiger Subventionen und Transferleistungen deutlich geringere Arbeitslosenzahlen (z.T. weniger als die Hälfte als in den neuen Bundesländern) aufweisen.
Liegt es eventuell daran, dass es sich hierbei um sogenannte Niedriglohnländer handelt und das Sozialhilfenetz nicht so breit gespannt ist? Daher wäre zu überlegen, ob in Deutschland auch auf dem Niedriglohnsektor und bei der Sozialhilfe neue Anreize geschaffen werden müssten, die auch minder qualifizierte Arbeitnehmer wieder in ein reguläres und ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechendes Beschäftigungsverhältnis führen. Denn nicht jeder Arbeitnehmer ist trotz umfangreicher Qualifizierung- und Umschulungsprogramme für anspruchsvollere Tätigkeiten geeignet.
In diesem Zusammenhang müssen meines Erachtens auch die bestehenden und geplanten Regelungen (z.B. Job-AQTIV-Gesetz) hinsichtlich einer Neugestaltung der Sozialhilfe einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Vom Grundsatz her ist zumindest nicht alles, was von politisch andersdenkender Seite in die Diskussion gebracht wird, falsch oder abzulehnen.
Bundeskanzler Herr Gerhard Schröder hat dies vor wenigen Wochen mit der Bezeichnung "Keiner hat ein Recht auf Faulheit" bereits angestoßen, was Ministerpräsident Roland Koch mit konkreten Vorschlägen kürzlich aufgegriffen hat.
So sollte auch eine gering bezahlte Stelle Vorrang vor der Arbeitslosigkeit haben. Die in einem bestimmten Klientel verbreitete Ansicht, Sozialhilfe, die sich ja zum Teil auch in Familien von Generation zu Generation weiter "vererbt", als reguläres Einkommen zu betrachten, führt den Sozialstaat ad absurdum und schadet letztlich nur denjenigen, die tatsächlich und berechtigt ihre Ansprüche auf Sozialhilfe geltend machen.
In Deutschland gilt vielfach die Meinung, dass die hohe Zahl der Sozialhilfeempfänger als Folge der Arbeitslosigkeit zu betrachten sei. Allerdings wird nur selten und kaum öffentlich die Ansicht vertreten, dass eine hohe Arbeitslosigkeit das Ergebnis eines falschen sozialpolitischen Verteilungsmechanismuses sein könnte. Meines Erachtens ist Sozialhilfe am Bedarf zu orientieren. Dabei ist das Abstandsgebot einzuhalten, d.h. soziale Leistungen aus Steuergelder müssen niedriger sein als ein zu erzielender Arbeitslohn und müssen bei Ablehnung eines Arbeitsangebotes spürbar gekürzt werden. Die teuren und wenig effektiven ABM-Maßnahmen sollten weitestgehend durch einen "Kombilohn" ersetzt werden. Hierdurch werden Niedriglöhne für gering Qualifizierte um Eingliederungszuschüße ergänzt für eine Tätigkeit in einem Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Angesichts der hohen Zahl von rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern, von denen rund 1 Millionen als arbeitsfähig eingestuft werden, weil sie weder zu alt noch zu krank sind, stellt sich die Frage, ob die bestehenden Regelungen als ausreichend angesehen werden und wenn ja, warum trotz der vorhandenen Gesetzeslage kein merklicher Rückgang der Sozialhilfeempfänger im Gegensatz zu anderen Ländern zu verzeichnen ist. Die häufig zu vernehmende Argumentation, demzufolge wir in Deutschland bereits ausreichende gesetzliche Maßnahmen zu Verfügung haben, erscheint fragwürdig, wenn trotzdem keine nennenswerte Senkung der Sozialhilfeempfänger spürbar ist.
Wenn man von den bekannten Zahlen ausgeht, die besagen, dass ca. 20 Prozent der Sozialhilfeempfänger gar nicht sozialhilfeberechtigt sind, dann stellt dies ein enormes Einsparpotential dar, das wesentlich effektiver eingesetzt werden könnte.
Sehr geehrter Herr Minister, wie Sie wissen hat die Bundesregierung auch umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des sogenannten Umsatzsteuerbetruges eingeleitet, die nach der Sommerpause vorgelegt werden. Mit der Eindämmung krimineller Machenschaften im Zusammenhang mit dem "Karusellbetrug" spart der Staat rund 23 Milliarden Mark pro Jahr, um die er vorher steuerlich betrogen worden. Ein Teil dieser Mittel könnte demnach sinnvoll für andere Zwecke eingebracht werden können.
Nimmt man einen Teil der Mittel, die über die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges nicht mehr ausgezahlt und dem Steuerbetrug anheim fallen zuzüglich der eingesparten Summe der angenommenen 20 % unberechtigter Sozialhilfeempfänger, so ließen sich hierdurch gezielt Mittel einsetzen, die insbesondere Familien und dem Mittelstand zugute kommen sollten. Schließlich erwirtschaften mittelständische Unternehmen rd. 50 % des BIP in Deutschland und stellen zu 70 % bzw. 80 % alle Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Hier lohnt es sich zu investieren, um auf diese Weise die deutsche Wirtschaft, Investitionen und die Konjunktur zu stärken und die Arbeitslosenzahl nachhaltig zu senken.
Ich möchte vor einer Politik warnen, die quasi von der Hand in den Mund legt, auf aktuelle Ereignisse reagiert aber eine langfristige Zukunftsperspektive vermissen läßt. Deutschland ist wieder zur zweitgrößten Industrienation der Welt geworden. Damit dies auch in den nächsten zehn bis 15 Jahren so bleibt, müssen wir uns fragen, was muß heute getan werden, um dies auch zukünftig sicherzustellen. Bei diesen Überlegungen müssen jetzt die Weichen gestellt und eine große gedankliche Ausrichtung einschließlich eines gangbaren Weges aufgezeigt und weiter fortgeführt werden – unabhängig davon, wer in den nächsten Jahren in Deutschland die politische Verantwortung trägt.
Für eine Stellungnahme zu den o.a. Punkten bedanke ich mich bereits im Voraus und werde mir erlauben, Ihnen einige vertiefende Gedanken für die Zukunftsausrichtung nach der Sommerpause zukommen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Lennartz MdB