„Stammzellenforschung — Handlungsbedarf aus der Sicht eines Praktikers“
Die meisten Menschen sind überzeugt, wir seien bei der Geburt mit all unseren Ge-hirnzellen
ausgestattet, und danach gehe es nur noch bergab. Jedes Glas Bier und
jeder Kopfball beschleunigten unausweichlich den Verlust unserer Nervenzellen und
brächten uns dadurch der Demenz näher. Wenn an dieser Beobachtung auch eini-ges
durchaus wahr ist, so hat sich in den vergangenen Jahren doch gezeigt, dass die
alte Regel der Neurobiologie „Keine neuen Nervenzellen!“ so nicht zutrifft. Wenn
auch in sehr begrenztem Umfang, so kann doch das Gehirn im Erwachsenenalter
noch neue Nervenzellen hervorbringen. Dass es dies kann, liegt daran, dass auch
das Gehirn, ebenso wie andere Organe, so genannte Stammzellen enthält, aus de-nen
neue Nervenzellen hervorgehen können.
Stammzellen sorgen für zellulären Nachschub im Körper
Stammzellen sind ganz allgemein Zellen, die innerhalb eines Organs für zellulären
Nachschub sorgen können. Aus ihnen gehen die spezialisierten Zellen hervor.
Stammzellen selbst sind aber noch sehr unspezialisiert und gewissermaßen „offen
für alles“. Je mehr Zelltypen aus einer Stammzelle hervorgehen können, desto „po-tenter“
ist sie. Die ultimative Stammzelle ist demnach die befruchtete Eizelle, denn
aus ihr kann ein ganzes Individuum entstehen.
Etwas weiter in der Entwicklung sind auch die Stammzellen schon festgelegter. Die
so genannten „embryonalen Stammzellen“, die zur Zeit in der Diskussion sind, sind
sehr frühe Stammzellen, die noch fast alles können, aber eben nur fast. Für ein gan-zes
Individuum reicht es bei ihnen nicht mehr. Sie sind „pluripotent“, aber nicht mehr
„totipotent“. Aber wegen ihrer vielfältigen Entwicklungsfähigkeiten sind sie für die
Medizin, die auf einen Zellersatz bei Erkrankungen sinnt, in denen Zellen unterge-gangen
sind, sehr attraktiv. Wäre es nicht ideal, zum Beispiel bei der Zuckerkrankheit
die untergegangenen Zellen der Bauchspeicheldrüse, die das Insulin produzieren,
einfach zu ersetzen und so den Patienten von den täglichen Insulinspritzen zu be-freien?
Nach gegenwärtigem Stand des Wissens ist dieser Schritt von der Totipotenz
der befruchteten Eizelle zur pluripotenten Stammzelle irreversibel und durch die
Evolution massiv geschützt (ein anderes Beispiel für einen extrem geschützten Me-chanismus
ist die Geschlechtszuordnung).
Ethische Fragen
Im Gehirn möchte man zum Beispiel beim Morbus Parkinson den Verlust eines ganz
speziellen Typs von Nervenzellen, der für das Auftreten der typischen Symptome des
Zitterns, der Unbeweglichkeit und der Starthemmung bei Bewegungen verantwortlich
ist mit embryonalen Stammzellen ersetzen. Transplantationen in Schweden bei de-nen
man Patienten unreifes Hirngewebe implantiert hat, haben gezeigt, dass dies prinzipiell sehr erfolgversprechend ist. Aber die Verwendung von Hirngewebe, das
von abgetriebenen Föten stammt, ist in ethischer Hinsicht höchst problematisch, und
zudem in der Praxis extrem aufwendig.
Stammzellen könnte man in der Zellkultur nahezu beliebig vermehren, bevor man sie
implantiert. So würde man von „Organspendern“ unabhängig. Embryonale Stamm-zellen
verheißen noch viele andere therapeutische Möglichkeiten, die es rechtferti-gen,
dass zur Zeit die Diskussion darüber stattfindet, ob und für welche Zwecke sol-che
Zellen von menschlichen Embryonen gewonnen und verwendet werden dürfen.
Embryonale Stammzellen sind nicht per se ethisch problematisch. Die in ihnen ent-haltene
genetische Information entscheidet sie in nichts von ausgereiften Körperzel-len,
wie wir sie durch Abschilferung der Haut, durch Stuhlgang und Niesen täglich in
großem Maße in unsere Umgebung freisetzen. Embryonale Stammzellen werden
vielmehr deshalb als ethisch problematisch erachtet, da sie eben, wie ihr Name
schon besagt, aus Embryonen gewonnen werden. Das heftig diskutierte Kernpro-blem
ist nun, ob die ethische Beurteilung, die eine praktische wissenschaftliche und
therapeutische Anwendung ermöglichen oder verhindern soll, eine kategorische sein
soll oder ob hier ein Abwägen möglich oder gar gefordert ist. Für die Forschung, für
die sich jetzt die DFG ausgesprochen hat, wären wegen der guten Vermehrbarkeit
der Zellen in der Zellkultur nur wenige Embryonen, vielleicht nur ein einziger notwen-dig.
Die Frage bleibt, inwieweit diese Quantifizierung die ethische Beurteilung beein-flussen
darf oder soll.
Großbritannien hat sich mit einem weitreichenden Schritt bereits dafür entschieden,
nicht nur menschliche embryonale Stammzellen zu verwenden, sondern diese sogar
eigens aus menschlichen Eizellen und Zellkernen des Patienten, der behandelt wer-den
soll, in einem Vorgang, der etwas unglücklich „therapeutisches Klonen“ genannt
wird, herzustellen. Nicht wenigen Bürgern, Forschern und Politikern erscheint dieser
Schritt problematisch. Andererseits umgeht er das oben dargestellte Dilemma. Auch
wenn kaum jemand das ungeheure Potential dieser Technik bezweifelt, sind noch
sehr viele technische Probleme ungelöst, und die ethische Anfechtbarkeit der Ver-wendung
menschlicher Eizellen in dieser Technologie, macht sie vielen Menschen
sehr fragwürdig. Es zeigt sich aber an der sehr lebhaften Diskussion zum Beispiel in
den großen Zeitungen, wie schwierig es ist, mit den gewohnten, tradierten ethischen
Kriterien, der neuen Situation gerecht zu werden. Hans Joas schrieb in der „Zeit“
(15.2.01) über die Lage der Diskutanten, „daß die neuen Möglichkeiten von Ge n-technik
und Biowissenschaften ihre ethischen Gewißheiten eher verunsichern und es
ihnen keineswegs leicht fällt, aus ihren ethischen Traditionen heraus handlungslei-tende
Folgerungen für die neue Lage zu ziehen.“ Dies zeigt sich insbesondere an all
denjenigen Stellen, an denen ein Abwägen gefordert wird.
Ausweg aus dem ethischen Dilemma?
Es gibt jedoch noch andere Typen von Stammzellen, die diese Probleme nicht mit
sich bringen. Denn auch nach Abschluß der embryonalen Entwicklung bleiben
Stammzellen in unseren Organen. Sie ermöglichen zum Beispiel, dass sich unsere
Haut immer wieder regeneriert, so dass wir bezogen auf unsere äußerste Hautober-fläche
jeden Tag ein anderer sind und die Folgen eines einzelnen Sonnenbrandes
uns nicht für immer erhalten bleiben. Knochen heilen nach Brüchen, unsere Haare wachsen unaufhörlich, die Darmschleimhaut erneuert sich ständig unter den Attak-ken,
die die mit saurem Magensaft versetzte Nahrung ihr zumutet.
Auch im erwachsenen Gehirn gibt es, wie gesagt, Stammzellen. Ihre normale Funkti-on
dort ist noch viel weniger erforscht, aber natürlich von größtem Interesse. So
spricht zur Zeit sehr viel dafür, daß neue Nervenzellen des erwachsenen Gehirns in
Lern- und Gedächtnisvorgängen eine Rolle spielen könnten. Im Zusammenhang da-mit
wird heftig diskutiert, ob manchen degenerativen Erkrankungen des Gehirns nicht
auch eine Störung solcher „Plastizität“ durch Nervenzellneubildung zugrundeliegen
könnte. Beispielsweise basiert eine der wenigen plausiblen Theorien darüber, was
biologisch hinter der klassischen Depression stecken könnte, auf einem Verlust von
Plastizität. Hier ist noch viel Forschung notwendig, um solche Zusammenhänge zu
erkennen und zu beschreiben.
Könnte man andererseits aber nicht solche „erwachsenen“ Stammzellen von einem
Patienten gewinnen und sie ihm zum Beispiel zur Behandlung seines Morbus Par-kinson
an die richtige Stelle transplantieren? Die vielfältigen Fähigkeiten der embryo-nalen
Stammzellen, alle Gewebe herzustellen, sind ja für diesen einen einzigen
Zweck gar nicht vonnöten. Eine Stammzelle, die neue Nervenzellen machen kann,
wäre völlig ausreichend; sie müsste nicht auch zur Bauchspeicheldrüsenzelle werden
können. Denn für die Behandlung der Zuckerkrankheit auf solch revolutionärem We-ge
könnte man dann ja auf andere, in dieser Richtung spezialisiertere Stammzellen
zurückgreifen.
Es ist mittlerweile geglückt, Stammzellen auch aus dem Gehirn Verstorbener zu ge-winnen.
Wenn man anstrebt, adulte Stammzellen zu transplantieren, so wäre dieser
Vorgang, also die Stammzellgewinnung von Verstorbenen, deutlich näher an das
längst akzeptierte Verfahren der Organtransplantation, wie wir es für Niere, Herz und
Leber kennen herangerückt. Hier steht die Forschung noch am Anfang, aber der im-merhin
ist gemacht.
Verblüffende Forschungsergebnisse
Zur großen Überraschung der Forscher hat sich bei der Untersuchung solcher „ge-webespezifischer“
Stammzellen gezeigt, daß auch die Stammzellen aus erwachse-nem
Gewebe viel potenter sind, als man ihnen zugetraut hatte. So konnten Forscher
aus Hirnstammzellen Blutzellen entstehen sehen. Auch der umgekehrte Fall wurde
beobachtet: aus Blutstammzellen entstanden Gehirnzellen.
Auch viele andere Versuche legen nahe, dass die scheinbar so strikten Grenzen
zwischen den verschiedenen spezifischen Stammzellen fließend sind. Es wurde so-gar
gezeigt, daß sich Stammzellen aus dem erwachsenen Gehirn unter bestimmten
Umständen ganz wie embryonale Stammzellen verhalten können. Wenn sich dies
bewahrheitet, bräuchte man nicht auf Embryos zurückzugreifen, um das therapeuti-sche
Potential von „embryonalen Stammzellen“ (im Sinne von mehr-als-multipotenten
Stammzellen) zu nutzen.
Diese verblüffenden Forschungsergebnisse sind nicht unumstritten, und manche der
Studien sind methodisch durchaus noch angreifbar. Es gibt auch eine sehr wichtige
alternative Hypothese zu dieser „Umprogrammierbarkeit“. Diese lautet, daß sich
Stammzellen nicht eigentlich umerziehen lassen, sondern sich auch im erwachsenen Organismus Stammzellen unterschiedlicher Potenz finden, deren Möglichkeiten unter
den jeweiligen experimentellen Bedingungen nur freigelegt würden. Diese These hat
in den letzten Wochen starke Argumente gewonnen, als eine Arbeitsgruppe der Yale
University im Knochenmark der erwachsenen Maus eine Stammzelle entdeckte, die
nahezu die Potenz einer embryonalen Stammzelle aufwies.
Diese Ergebnisse zeigen aber vor allem auch, wie ungenau unsere Begriffe gewor-den
sind und wie problematisch viele Definitionen. Deshalb ist Forschung an Stamm-zellen,
auch an embryonalen, wenn auch vielleicht nicht unbedingt menschlichen
embryonalen Stammzellen, so notwendig. Und deshalb ist die öffentliche Diskussion
über diese Themen so wichtig. Es ändern sich ja nicht nur Begriffe: hinter den Be-griffen
stehen Konzepte, Philosophien, Werte und Lebensentwürfe.
Die Stammzellrevolution, die wir zeitgleich mit der genetischen Revolution erleben
und verarbeiten müssen, hat aber noch einen anderen Aspekt. Wenn auch der er-wachsene
Organismus noch in solchem Maße Stammzellen enthält und für seine
Funktion einsetzt, dann kann man sagen, daß die Entwicklung eines Individuums
niemals abgeschlossen ist. Gerade für das Gehirn bedeutet dies, dass viele als fest
und gegeben angenommenen Zusammenhänge viel veränderlicher und „plastischer“
sind als man gedacht hat. Diese Plastizität, ihre Bedeutung für die normale Funktion
und auch ihr Versagen bei Krankheit, ist ein sehr bedeutsamer Teil der Stammzell-forschung.
Die Vorstellung solcher Plastizität ist vielen Menschen durchaus unheim-lich,
und wird mitunter als irritierend empfunden. Nicht zuletzt, da wie bereits darge-stellt,
sich hier auch ein grundsätzlich anderes Verständnis des Verhältnisses von
Krankheiten und Gesundheit andeutet: dem einer Balance in einem System fortwä h-render
Veränderungen und Entwicklungen.
Man kann sich in praktischerem Sinne auch fragen, warum man denn überhaupt für
eine Therapie erst Stammzellen aus einem Patienten gewinnen soll, nur um sie hin-terher
wieder zu transplantieren, wenn es doch „vor Ort“ nachweislich Stammzellen
gibt, die vielleicht nur darauf warten, den richtigen Stimulus zu erhalten, um eine Re-generation
in Gang zu bringen? Im Hinblick auf mögliche Therapien wäre auch
denkbar, dass sich zum Beispiel die Plastizität (oder die obengenannte Balance) mit
neuartigen Medikamenten unterstützen ließe. Wenn man die so genannten neurode-generativen
Erkrankungen, zu denen zum Beispiel der Morbus Parkinson und auch
solch komplexe Krankheiten wie der Morbus Alzheimer gehören, als ein Versagen
der Plastizität versteht, so hätte man auf diese Weise einen neuen Therapieansatz
für diese schwierigen Erkrankungen. Letztlich ist das nicht spekulativer als die An-nahme,
durch therapeutisches Klonen komplexe Krankheiten behandeln zu können.
Anfragen an die Politik
Schon diese knappe Übersicht dürfte gezeigt haben, dass das Thema „Stammzellen“
weitaus komplizierter und vielschichtiger ist, als die Diskussion oft vermuten lässt.
Diese Vielschichtigkeit erlaubt es aber auch, die möglichen Anwendungen der
Stammzellbiologie in der Medizin und ihre ethischen, juristischen und praktischen
Konsequenzen, sehr differenziert zu betrachten und zu entsprechend differenzierten
Schlüssen zu kommen. Unser aller Problem ist, dass wir uns dieser Herausforderung
auch stellen müssen. Politische Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, lösen
nicht das zugrundeliegende Problem. Die Stammzellfrage wird uns, wie die Proble-matik
um Erforschung und Nutzung des Genoms, in der Zukunft begleiten, und die Situation wird sicherlich eher komplexer als einfacher werden. Mein Plädoyer ist, sich
diesen Herausforderungen offen zu stellen. Gute Diskussionen sind notwendig und
werden es bleiben.
1. Stammzellforschung soll, da sie die Menschheit so essentiell betrifft, öffentlich
sein. Öffentlichkeit ist auch die beste und einfachste Form der gesellschaftlichen
Kontrolle der Wissenschaft. Selbstverständlich ist Wissenstransfer in anwen-dungsorientierte
Forschung und wirtschaftliche Umsetzung im Interesse aller und
förderungswürdig. Die Grundlagenforschung dazu aber sollte öffentlich sein und
sollte als solche auch mit entschiedenerem Einsatz als bisher finanziert werden.
Das bedeutet nicht, daß nicht auch gezielt aufgelegte Forschungsprogramme
sehr sinnvoll sein können, sie sollten aber flankiert werden von freier Forschung
in den Natur- und Geisteswissenschaften.
2. Wenngleich die Definition und Durchsetzung von Grenzen notwendig ist und ja
auch akzeptiert wird, so verkennt eine rein auf Grenzziehungen zielende Politik
nicht nur die sehr wirksamen Regulationsmechanismen in der Wissenschaft
selbst, sondern läuft auch Gefahr, positive Entwicklungsmöglichkeiten zu verpas-sen.
3. Da Gesetze langfristig nur dann akzeptiert werden und durchsetzbar bleiben,
wenn sie auf einen möglichst breiten und vor allem qualifizierten gesellschaftli-chen
Konsens zurückgreifen können, muß vorrangiges Ziel die Aufrechterhaltung
und die Pflege des gesellschaftlichen Diskurses sein. Um die Anfälligkeit gegen-über
Modemeinungen und zeitgeistigen Emotionen zu mindern und Kompetenz
und Transparenz zu ermöglichen, muß Sachinformation im Vordergrund stehen.
Die Politik muß hier beitragen durch das Vorbild einer sachlichen Diskussion,
durch gezielte Ausbildungs- und Informationsmaßnahmen und klare Absagen an
vereinfachende Utopien oder Dämonisierungen.
Gerd Kempermann
Anschrift des Verfassers:
Dr. Gerd Kempermann
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
und Neurologische Klinik der Charité
Robert-Rössle-Str. 10
13125 Berlin-Buch
gerd.kempermann@nullmdc-berlin.de