Beitrag von Dr. Werner Müller

I. Zukunftsvision

Prognosen sind bekanntlich schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.

Wenn ich daher heute einige Anmerkungen zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen der modernen IuK-Technologie mache, dann nicht im Sinn einer Prognose.

Statt dessen möchte ich – als Anregung für die weitere Diskussion heute – einige Überlegungen dazu anstellen, wie die Welt vielleicht in zehn Jahren aussehen könnte.

Dazu werde ich einfach mal den Versuch unternehmen, zwei Szenarien zu entwerfen.

Ein optimistisches Szenario und ein weniger optimistisches Szenario.

II. Die nahe Zukunft

Lassen Sie mich zuvor jedoch einen Blick auf die nähere Zukunft werfen, denn da ist weit eher klar, wohin die Reise geht.

Der Markt für Informations- und Kommunikationstechnologie wächst rasant.

Für dieses Jahr wird wieder ein Plus von 10% auf rund 260 Milliarden DM erwartet; bereits 2003 sollen 300 Milliarden überschritten werden.

Die IT-Branche wird damit zum größten deutschen Wirtschaftszweig überhaupt und überholt damit so ganz nebenbei die Automobilbranche.

Auch bei der Beschäftigung geht es steil nach oben.

Zurzeit sind in der Informationswirtschaft rund 1,7 Millionen Menschen beschäftigt.

Die Zahl der Beschäftigten stieg im I+K-Bereich im Jahr 2000 um 33.000 oder 4% gegenüber 1999 auf fast 800.000.

Allein im Bereich der Informationswirtschaft hält das RWI bis zum Ende des Jahrzehnts einen Nettoarbeitsplatzeffekt von bis zu 750.000 Stellen für möglich.

Auch bei der Nutzung des Internets holt Deutschland auf; gegenwärtig liegt die Zahl der Internetnutzer bei rund 25 Millionen.

Und es werden täglich mehr.

Alles spricht daher dafür, dass wir mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung jene Entwicklung nachvollziehen, die sich in den USA abgespielt hat.

III. Alltag in 10 Jahren

Wie aber könnte nun der Alltag in 10 Jahren aussehen?

Welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungslinien werden sich durchsetzen?

Ich nehme mal als Beispiel Otto Schulze.

Otto Schulze sitzt zu Hause an seinem PC und kontrolliert das Mischverhältnis einer komplizierten biochemischen Verbindung für sein 50 km entferntes Pharmaunternehmen.

Er ist dort durch Video- und Onlinekommunikation sowohl mit der technischen Zentrale des Betriebs als auch mit den Zuliefer- und Abnahmeeinheiten verbunden.

Einmal im Monat nimmt er online an einem Lehrgang zur fortgeschrittenen, elektronisch gesteuerten Fermentertechnologie teil.

Wenn Otto Schulze einmal pro Woche in sein Unternehmen fährt, kann er sich gar nicht mehr vorstellen, dass er bis vor einem halben Jahr noch täglich im Stau gestanden hat.

Seine Frau Emma Schulze praktiziert Telearbeit schon seit längerem als Sachbearbeiterin in einem Abrechnungsbüro für Arztpraxen.

Sie erhält ihre Aufträge entweder per E-Mail oder per Telefon.

Sie bedient sich dabei eines Kalkulations- und Gebührenabrechnungsprogramms, das ständig neu übers Internet aktualisiert wird.

Otto und Emma Schulze können sich ihre Arbeitszeit so einteilen, dass sie ihre beiden 2- und 4-jährigen Kinder gemeinsam erziehen.

Das gemeinsame Arbeiten von Familie Schulze zu Hause war anfangs natürlich ungewohnt.

Jetzt wundert sich Familie Schulze nur noch, wie es Eheleute jahrzehntelang geschafft haben, den Großteil des Tages an getrennten Arbeitsplätzen zu arbeiten, viele Stunden wöchentlich im Verkehr zu stecken und trotzdem Familie und Ehe einigermaßen zusammen zu halten.

Am Abend sieht sich Familie Schulze eine beliebte Familienserie im Fernsehen an.

Die Bluse der Hauptdarstellerin gefällt Frau Schulze besonders gut.

Über ihre Fernbedienung kann sie feststellen, um was für eine Bluse es sich handelt.

Mittels eines digitalen Fotos zieht sie die Bluse virtuell an und kann so beurteilen, ob sie ihr steht.

Über das Internet gibt sie den Preis ein, den sie im Rahmen einer reverse auction, einer umgekehrten Auktion, zu zahlen bereit ist, worauf sich mehrere Anbieter melden.

In der anschließenden Talkshow mit Politikern im Lokalfernsehen geht es um die Verwendung eines Gebäudes der Gemeinde aus der Gründerzeit, dessen Abriss offenbar geplant ist.

Viele Bürger sprechen sich für den Erhalt des Gebäudes aus und bilden im Netz entsprechende Chat-Rooms.

Familie Schulze möchte, dass ein dringend benötigter Kindergarten dort eingerichtet wird und teilt das dem Bürgermeister mit.

Anschließend kann jeder Zuschauer ein Votum abgeben, wobei mehrere Alternativen vorgegeben werden.

Die Mehrheit spricht sich dafür aus, das Gebäude zu erhalten und mit Auflagen an eine Bank zu verkaufen.

Soweit in vielleicht 10 Jahren der Alltag der Familie Schulze – wenn die Dinge gut laufen.

IV. Alltag wie er aber auch sein könnte.

Es könnte aber auch anders kommen – und damit zum etwas weniger optimistischen Szenario.

Zunächst unterstelle ich mal, dass sich Herr Schulze kontinuierlich weitergebildet hat und deswegen noch in Lohn und Brot steht.

Vielen seiner ehemaligen Kollegen ist es nämlich anders ergangen.

Die haben irgendwann den Anschluss an die rasante Entwicklung der IuK-Anwendungen verloren und beziehen jetzt Stütze.

Sie reihen sich damit in das Heer der Arbeitslosen ein, das aufgrund immer neuer Rationalisierungswellen entstanden ist.

Viele der neu hinzugekommenen Arbeitslosen haben übrigens bis vor kurzem in Call-Centern gearbeitet.

Seit sich aber die Spracherfassung und –bearbeitung per Computer derart revolutioniert hat, macht ein Call-Center nach dem anderen dicht.

Zu den verbleibenden Kollegen hat Herr Schulze auch immer weniger Kontakt.

Es fehlen die informellen Begegnungen in der Kantine oder vor dem Kaffeeautomaten, wo in der Vergangenheit schon so einiges wichtiges besprochen wurde.

Seitdem sind des Öfteren schon wichtige Entwicklungen an ihm vorbei gegangen.

Und so richtig persönlich kennen gelernt hat Herr Schulze auch nur die wenigsten, denn selbst Fortbildungsveranstaltungen finden online statt.

Natürlich muss sich Herr Schulze jetzt nicht mehr jeden Tag durch den Berufsverkehr quälen.

Er arbeitet zu Hause.

Aber wenn er doch mal unterwegs ist, dann ist es kaum weniger schlimm als früher.

Die Zahl der Pendler hat zwar abgenommen, dafür verstopfen aber immer mehr Lieferwagen die Straßen, seit die Menschen mehr und mehr Dinge übers Internet kaufen und sich direkt nach Hause liefern lassen.

Etwas wehmütig erinnert sich Herr Schulze abends beim Power-Shopping an die Zeiten, als man beim Einkaufen noch durch belebte Geschäftsstraßen flanieren konnte.

Denn denen hat das Internet immer mehr den Garaus gemacht seit auch Bekleidung passgenau über das Internet bestellt werden kann.

Nur noch die großen Einkaufszentren am Rande der Städte können sich halten, denn dort bekommt man vieles immer noch einen Tick günstiger als via Internet.

Vor allem jene, die auf dem flachen Land wohnen und deshalb nach dem Ende des Postmonopols höhere Zustellgebühren für Briefe und Pakete zu entrichten haben, fahren hier hin.

Pech für Leute, die sich weder Auto noch Netzzugang leisten können: für die ist das Leben deutlich teurer geworden.

Und was nun Frau Schulze angeht, so ist Frau Schulze eigentlich Frau Maier geblieben.

Seit das Surfen im Internet immer mehr zum Freizeitvergnügen geworden ist und man sich auch die neuesten Kinostreifen – natürlich gegen Bezahlung – aus dem Netz holen kann, geht kaum noch jemand aus.

Immer mehr Kinos, Kneipen und Lokale machen mangels Kundschaft dicht.

Bei vielen Menschen haben sich Vereinsamung und ein Gefühl der Isolation breit gemacht, denn wo soll man noch jemanden kennen lernen?

Jeder ist zwar überall und rund um die Uhr zu erreichen.

Die Frage ist nur, wer sie oder ihn denn erreichen möchte.

Ansonsten ist Frau Maier bei einem Lieferservice für Lebensmittel tätig und fährt dort für 10 DM Brutto Ware aus, nachdem das Abrechnungsbüro, in dem sie früher tätig war, die Datenerfassung automatisiert hat und deswegen nur noch EDV-Spezialisten beschäftigt.

Herr Schulze kommuniziert dagegen vorwiegend mit Computern.

Die melden sich andauernd über sein Handy mit diversen Werbebotschaften, insbesondere seit er den Fehler gemacht hat, sich bei einem Internetkaufhaus mit Telefonnummer und E-Mailadresse zu registrieren.

Auf die Dauer tötet ihm das den letzten Nerv, da kaum eine Minute vergeht, ohne dass nicht sein Handy summt.

Nur geht abstellen auch nicht.

Zum einen hat sich Otto Schulze in einer virtuellen Bürgerinitiative engagiert, die es sich zum Ziel gesetzt hat, endlich etwas gegen die verödenden Innenstädte zu unternehmen.

Und da geregelte Arbeitszeiten schon lange der Vergangenheit angehören, ist es äußerst schwierig, einen Termin zu finden, zu dem alle können.

Vielen Sportvereinen hat das schon den Garaus gemacht.

Man trifft sich daher kurzfristig im Chat-Room, wenn gerade keiner etwas dringendes zu erledigen hat.

Zum anderen fiel vor ein paar Tagen wieder mal der Strom aus, irgendein Billigproduzent aus Rumänien konnte wohl nicht liefern.

Otto Schulze musste deshalb Brot und etwas Käse an der Tankstelle zwei Straßen weiter kaufen, statt wie üblich online zu bestellen, weil diese Tankstelle damit wirbt, einen Notstromgenerator zu haben.

Und da ist er dann dieser adretten Frau begegnet, die genau das gleiche Problem hatte wie er.

Man kam ins Gespräch und tauschte schließlich E-Mailadressen aus.

Und seitdem sitzt Otto Schulze wie auf Kohlen.

Da ist es kein Trost, dass er jetzt exakt 127 digitale Fernsehsender und 45 Radioprogramme empfangen kann.

Denn leider verhalten sich Qualität und Quantität wie kommunizierende Röhren, auch im Internet.

Gegen das, was bis jetzt teilweise so gesendet wird, ist Big Brother fast so harmlos wie die Sendung mit der Maus.

Zwar sind gewaltverherrlichende, pornografische und antisemitische Inhalte nahezu weltweit auf dem Index.

Nur überfordert die Behörden die notwendige Kontrolle Hunderttausender von Internetseiten und Zehntausender von Fernsehsendungen völlig.

Nicht zuletzt mangelt es an breiter Unterstützung durch Wähler und Politik.

Immer weniger Menschen engagieren sich für Dinge von allgemeinem Interesse, kurzfristiger Aktionismus je nach Nachrichtenlage dominiert.

Die Erziehung durch Teletubbies und Schwarzenegger, die Reduzierung komplexer Inhalte auf 3-Minuten-Statements, die Dauerberieselung mit infantilen Sitcoms und noch infantileren Talk-Shows, alles das hat unübersehbare Spuren hinterlassen.

Aus den einst gepriesenen Individualisten sind leicht verblödete Autisten geworden, für die der Bildschirm an die Stelle der realen Welt getreten ist.

Man kann von Glück reden, dass sich bisher nur wenige Jugendliche Schwarzenegger & Co zum direkten Vorbild genommen haben und mal eben mit Maschinenpistole und Handgranaten bewaffnet Rache für die verhagelte Klassenarbeit nehmen.

Immerhin gibt es bereits eine ganze Reihe von Online-Händlern für Waffen aller Art.

Die Lieferung erfolgt innerhalb von 24 Stunden, bei Bedarf auch schneller.

Vorausgesetzt, der Zoll schaut nicht zu genau hin.

V. Schluss

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

soweit die beiden Szenarien.

Damit Sie das aber nicht – so oder so – falsch verstehen, noch eine Randbemerkung: Ich möchte keine Aussage darüber machen, welches Szenario für mich das wahrscheinlichere ist.

Und zwar aus zwei Gründen nicht:

Zum einen bin ich als Wirtschaftsminister sozusagen von Amts wegen optimistisch gestimmt.

Und zum anderen unterscheiden sich Vorhersagen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen in einem ganz wichtigen Punkt von Wetterprognosen.

Allein die Tatsache, dass man Vorhersagen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen macht, kann schon dazu führen, dass dann doch alles ganz anders kommt.

Was könnte im Falle des pessimistischen Szenarios passieren?

Nun, denkbar wäre, dass sich das ein paar Leute zu Herzen nehmen, was ich sage.

Und dass sich meine Gedanken immer mehr verbreiten und schlussendlich auch politische Konsequenzen haben.

Und zwar entweder, weil versucht wird, die Einführung und Vorbereitung der IuK-Technologie zu be- oder verhindern.

Damit würde die prognostizierte Entwicklung natürlich eventuell nicht eintreten.

Nur hätte ich deshalb eine falsche Prognose abgegeben?

Denkbar wäre natürlich auch, dass sich die Gesellschaft erst später und angesichts der ungewollten und ungewünschten Konsequenzen verweigert.

Dass sich nicht unbedingt Technikfeindlichkeit, wohl aber eine ausgeprägte Technikskepsis breit macht.

Auch dann würde in der langen Frist nicht das geschehen, was ich eben skizziert habe.

Deshalb: die Zukunft ist nirgendwo in Stein gemeißelt.

Die Zukunft ist immer das, was wir aus ihr machen.

Wenn wir daher die Weichen rechtzeitig stellen und uns immer wieder vor Augen halten, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklungen nicht zwangsläufig sondern gestaltbar sind, dann werden wir auch die Chancen der neuen Informations- und Kommunikationsdienste zum Nutzen aller Bürger ergreifen können.

Und diese Chancen liegen sowohl auf wirtschaftlichem wie auch auf gesellschaftlichem Gebiet.

Als Chance für mehr Beschäftigung, für neue Lebens- und Arbeitsformen.

Und als Chance für mehr Partizipation der Bürger.

Allerdings – und diesen ambivalenten Schlusspunkt möchte ich bewusst setzen – eine Garantie dafür gibt es nicht.